mein - unser - euer

30.07.2024 21:05
avatar  Anja
#1 mein - unser - euer
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Hallo,
Vereinschöre sind für mich noch neu. Neulich sagt die Vorsitzende eines Chores: "Mein Chor ist es nicht gewohnt,..." und ich dachte zunächst, sie meine einen anderen Chor. Aber sie meinte den, mit dem ich gerade noch geprobt hatte. Ich war so irritiert über das "mein".
Wie ist das als Chorleiter eines Chorvereins: ist es gefühlt "mein, unser oder euer Chor"? Und sprachlich das Gleiche?
Ich hätte ein "Unser" erwartet, das zumindest die Chorgruppe meint oder auch mich mit einschließt.
Hmm, wie seht ihr das? Sind Vereinschöre deren Chor, euer Chor oder dein Chor?

Anja


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30.07.2024 22:47
#2 RE: mein - unser - euer
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Liebe Anja, das kommt meiner Meinung nach darauf an, wie lange du den Chor schon leitest.

Ich berichte im Folgenden wie ich es erlebe und wie ich es bei Kollegen im Coaching sehe:
Häufig ist die Anfangszeit mit einem neuen Chorleiter noch von Trauerarbeit und (meist positivem) Erinnern an den alten Chorleiter aber auch Misstrauen in seinem Wortsinne (was macht die/der nun / was wird anders / was wird die Zukunft bringen) (=also noch kein Vertrauen) bestimmt.
Das findet in jedem Chor statt.
So wäre die Äußerung der Vorsitzenden im Normalfall zu erklären: du gehörst noch nicht komplett dazu.
Ihr seid noch keine Einheit.
Sie hat dich noch nicht gänzlich als Vertrauensperson und als berechenbar (nicht zu unterschätzen) kennenlernen dürfen.
Im schlimmsten Fall hat sie Angst vor dir und den von dir evtl. kommenden Änderungen.

Im Verein haben wir ja nicht nur den Chorleiter und evtl. einen Beirat/ andere Delegierte.
Wir haben gewählte Verantwortliche neben dir, die tatsächlich eine Menge Arbeit in den Chor reinstecken und im Gegensatz zu einem Beirat sogar rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können (z.B. durch die Steuererklärung, die evtl. sogar über die Gemeinnützigkeit entscheidet).
D.h. die, die dieses Ehrenamt innehaben müssen das auch wirklich wollen.
Und da passiert das Problem: sie identifizieren sich manchmal ungesund mit dem Chor.
Im von dir genannten Beispiel gehe ich jede Wette ein, dass die Vorsitzende den Job schon viele Jahre macht und mit „ihrem Chor“ schon so manches Erlebt hat. Sie hat wahrscheinlich schon mehrere Chorleiter kommen und gehen sehen – die einzige Konstante war also SIE.

Das ist nun gut, wie auch schlecht.
Gut ist, dass man jemanden im Vereinsvorstand hat, der sich wirklich für den Chor einsetzt (und das wird in diesem Fall so sein).
Schlecht wird es dann, wenn die Frage der Kompetenz und Arbeitsteilung nicht mehr klar definiert ist.
Ob das hier so ist muss die Zeit zeigen – ich würde allerdings jedes Kontra der Vorsitzenden zu deinen Vorschlägen immer mit einem Gedanken bewerten und verarbeiten: wir wollen beide das beste für diesen Chor.
Wir sind beide in unserem Feld kompetent.
Wie kann ich dafür sorgen, dass die Vorsitzende (oder auch der ganze Vorstand) wahrnimmt, dass wir ein gemeinsames Ziel verfolgen?
Wie kann ich eventuelle Emotion rationalisieren und auf einer sachlichen Ebene bleiben?
Ich durfte mal einem Chorleiter unter die Arme greifen, der sich nicht mehr gegen solch einen Vorsitzenden wehren konnte: der Vorsitzende hatte z.B. keine Lust vor einem Auftritt ein Einsingen zu machen und erklärte dann dem Chor, dass dieses nicht stattfinden würde…und der Chorleiter stand dann da allein und der Chor kam zum Auftritt (leider kein Scherz!)

Und nun um deine Schlussfrage damit zu beantworten: gehen musste am Ende der Vorsitzende und nicht der Chorleiter. Einfach weil der Vorsitzende nicht ein gemeinsames Ziel verfolgte, sondern nur noch sein eigenes.
Denn natürlich ist es „unser Chor“. Als Laienchorleiter sind auch wir nur ein Teil des Chores (mit etwas mehr Verantwortung), genau wie der Vorsitzende des Vereins.
Und das schöne ist, dass das nicht nur meine Meinung ist, sondern die Meinung eigentlich aller Chorsänger.
Ein Verein ist „nur“ eine Organisationsstruktur.
Diese Struktur sorgt im Idealfall für Rechtssicherheit oder auch für die Garantie, dass du bezahlt wirst.
Der Chorsänger merkt im Normalfall nicht, dass er in einem Verein singt (außer er will sich damit identifizieren).
Ich kenne allerdings keinen Gesangsverein, der auch noch die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts erleben will, der sich auf die Vereinsmeierei festlegt.
Alle mir bekannten Vereine, die auch junge Sänger anziehen, sind tunlichst darauf bedacht den Verein im Hintergrund laufen zu lassen.
Und dann gibt es nur noch den Chor mit seinem Chorleiter - und den Vorstand, der aber mit dem Chorleiter in Symbiose zusammenarbeitet.

Meine Grundregel für jede Vereinsvorstand-Chorleitersymbiosenzusammenarbeit ist in einem klärenden (sachlichen) Gespräch die Kompetenzen abstecken.
Das sollte man erst recht tun, wenn man einen Vereinschor neu übernimmt und in jedem Fall, wenn man besitzergreifende Vorstände hat.
Wer ist für was verantwortlich? Darüber wird überraschend selten gesprochen, weil alle immer denken, dass sich das so eingrooved. Tut es meistens nicht. Wenn man es einmal aufschreibt, gibt es weniger Probleme:
Wer ist für die Stückauswahl, die Podeste, das Licht, die Konzerttermine, die Kommunikation mit dem Chor, den Probenplan, die Bestuhlung, die Finanzen (ok, ist klar), die Noten, den Notenkauf, das Einrichten der Noten, die Übeklangdateienerstellung, die Pausengetränke, Stifte, Aufschließen des Probenraumes usw. usf. verantwortlich?

Darüber zu sprechen kann auch ein Vorschlag sein, den man einfach in eine der ersten Vorstandssitzungen, denen man als Chorleiter beiwohnt, einbringt. Das muss nicht konfrontativ geschehen, sondern kann sich sogar wie eine vertrauensbildende Maßnahme anfühlen: „Ich möchte gerne wissen wer für was der Ansprechpartner ist. Das würde mir total helfen, damit ich schnell bei aufkommenden Fragen die richte Person nerven darf.“ Und schon wird sich herausstellen, ob der Vorstand da mal drüber nachgedacht hat.

Also lange Rede kurzer Sinn: keinem Vereinvorstand gehört der Chor, genausowenig wie dem Chorleiter oder einem anderen Sänger – egal ob Verein oder nicht.
Nach meiner Erfahrung identifizieren sich die Sänger natürlich mit ihrem Chor, aber wissen auch alle, dass sie ohne all die Rädchen, die da im Uhrwerk singen, dirigieren und organisieren keinen Chor hätten.

Ich hoffe ich konnte ein wenig helfen.
Viele Grüße
Philip

PL

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02.08.2024 12:46
avatar  Anja
#3 RE: mein - unser - euer
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Hallo Phillip,

viiiielen Dank für die Antwort. Das hat für mich alles geklärt.

PS. Ich fühle mich mit diesem Chor so verbunden und vertraut, dass ich glatt vergessen hatte, dass es für die Anderen mit dem Vertrauen nach 4 Monaten (!) nicht genauso turbo schnell gehen muss (schmunzel) ....

Danke.
Anja


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