Durchsingen

16.10.2024 18:18
#1 Durchsingen
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Ich wusste nicht, dass das kaum ein anderer macht...
Ich singe Konzertprogramme immer wieder in s.g. Durchlaufproben durch.
Sänger sollen sich dabei Kreuzchen in die Noten machen, wo sie eigene Fehler finden.
Auch für mich ist dieser Moment da, damit ich jedes Stück bewerten kann und dann die Stücke, die noch nicht so gut sind in den folgenden Proben differenzierter proben darf.
So bringe ich alle Konzertteile auf dasselbe Niveau.

Aber was steckt da eigentlich hinter und warum machen das wenige?
Weil im Profibereich erwartet wird, dass man eine Stelle geprobt hat und diese wie geprobt auch noch nach Wochen oder sogar Monaten parat ist.
Und dort stimmt das auch. Nur deshalb können Opernhäuser eine Oper fertig proben und dann die gesamte Spielzeit mit wochenlangen Pausen immer wieder aufführen, ohne diese Opern andauernd neu einzustudieren.
Oder deshalb können sehr gute Laienchore und eben Profichöre viele Konzertprogramme pro Jahr erarbeiten.
Da wird ein Stück einmal geprobt und dann wieder in der GP gesungen.
Fertig.
Und bei diesen Chören stimmt dann auch das Wort Repertoire....
Repertoire ist das, was man nach einer Auffrischungsprobe wieder objektiv gut singen kann.

‚Normale‘ Laien können das alles nicht.
Sie können sich abgesprochene Singweisen und sogar Tonfolgen nicht über Wochen merken.
Da braucht es stete Wiederholung in den Proben.
Aber wie schafft man dann ein Konzertprogramm von 60 Minuten Musikspielzeit?
Indem man differenziert probt.
Alle Proben führen zum echten Konzert.
Dazwischen gibt es aber Proben, die wie ein Konzert sind und quasi Etappenziele darstellen:
Wir singen das Programm durch, ohne zu proben und schauen uns den IST-Zustand an; bewerten ihn und ziehen Konsequenzen.

Ich habe über Jahre verschiedene Methoden versucht. Dies ist die effektivste.
Sehr vereinfacht im folgenden Beispiel:
Stück A, B, C, D.
Probe 1: Stücke AB
Probe 2: Stücke CD
Probe 3: Stücke AB
Probe 4: Stücke CD
Probe 5: Durchlauf
Nehmen wir an: A war ok, B sehr schlecht, C sehr gut, D ok, dann kopple ich in den folgenden Proben die Stücke B und C und A und D.
Natürlich geht das nur, wenn die Stücke eine ungefähr gleiche Länge haben.

Wozu ich dich anregen möchte, ist, Proben ein bisschen analytisch nachzuarbeiten und daraus Konsequenzen für spätere Proben zu ziehen.
Wenn du schon langjährige Erfahrung mit deinem Chor hast, dann kannst du das alles meistens schon antizipieren und von vornherein deinen Probenplan so gestalten:
leichte und schwere Stücke in einer Probe zu kombinieren (also von vorneherein in der Kombination BC und AD zu proben).

Und lass deine Sänger reinschreiben! Denn wie geschrieben sind diese Durchsingproben auch für sie da.
Sie sollen ganz bewusst wahrnehmen, welche Stellen sich schon sicher anfühlen und welche nicht.
Markieren sollen sie sich die Stellen, die sie einerseits selbst anschauen wollen, aber auch die, die sie sich von dir in der Probe nach dem Durchsingen wünschen.
Du kannst diese Momente auch im Kleinen erzeugen, indem du einfach so in einer Probe mit diesem Arbeitsauftrag durchsingen lässt (und das mache ich auch mit meinem Kirchenchor!).
Es aktiviert deine Sänger ungemein und wenn du Ihre Wünsche und die von ihnen markierten und so kommunizierten Stellen auch wirklich danach wertungsfrei auf ihren Wunsch hin nochmal probst, werden sie diese Maßnahme dankbar annehmen (natürlich nie alle...).

Ich hatte gerade eine schwere Konzertphase und auf dem Weg dahin musste ich meinen Chor, nachdem wir lange kleinteilig gearbeitet hatten, wieder ins Singen bringen, aber ohne die Sauberkeit und Feinheiten zu verlieren.
Auch hier ist das Durchsingen mit analytischer Betrachtung lebensrettend, sonst wird das Durchsingen nur zu Langeweile und ausgelutschtem Singen führen.

Durchsingen ist auch am Ende einer Probe wichtig. Schlicht um das Geprobte zusammenzufassen.
Arbeitest du so wie ich retrosequenziell musst du da fast nicht drüber nachdenken.
Probest du grundsätzlich von Vorne, kann es schonmal passieren, dass die Zeit fehlt das Stück, oder den Probenabschnitt, nochmals durchzusingen.
Für mich eine Todsünde.
Denn deine Sänger kommen in die Probe um zu singen.
Die meisten haben verstanden, dass man das auch erstmal proben muss.
Aber ich schicke meine Sänger immer mit dem guten Gefühl nach Hause, dass das Proben auch für etwas gut war. Einfach weil ich sie das Gelernte nochmals durchsingen lasse.

Das waren ein paar Gedanken zum Durchsingen, die mir durch die Nachfrage einer Sängerin und in Diskussion mit einem gecoachten Kollegen kamen.
Für mich war das nie ein großes Thema, da ich eben retrosequenziell probe (d.h. das Durchsingen ist im System mit drin) und für mein zwischenzeitiges Durchsingen eine logische Begründung habe (die ich auch kommuniziere, wenn ich den Arbeitsauftrag zum Reinschreiben erteile).
Für andere ist es scheinbar ein größeres. Im Falle des Kollegen auch, da man dann nicht "professionell" genug wirkt.
Am Ende zählt für mich aber das Ergebnis. Der Weg dahin sollte nicht von Dogmen, sondern von Ratio, Analyse und Respekt vor den Bedürfnissen der Sänger bestimmt sein.

PL

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