Alle für einen? Sippenverantwortung bei unsauberen Tönen?

27.06.2025 16:19
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#1 Alle für einen? Sippenverantwortung bei unsauberen Tönen?
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Hallo zusammen,

ich habe in Philipps Podcast in einem Artikel gehört, dass er bei falschen Tönen oder Unsauberkeiten immer die Stimmgruppe anspricht, nicht den Einzelnen. So habe ich das bisher auch gehalten.
Ist das wirklich der richtige Weg? Natürlich kann und will man Einzelne nicht vorführen, bloßstellen usw. Aber "Sippenverantwortung" kann ebenfalls problematisch sein.
Hat jemand dazu Tipps? Mir scheint, beide Varianten sind mitunter problematisch.

Mich sprach eine Sängerin aus einem anderen Chor an, dass sie es sehr stressig findet, wenn immer die gesamte Stimmgruppe angesprochen wird, wenn nur Einzelne gemeint sind. Die Sängerin fragt sich jedes Mal, ob sie gemeint ist und sie etwas ändern muss oder ob es bei ihr richtig war und sie gar nicht gemeint ist.
Und in meinen Chören gibt es einige unsichere Sänger, die öfter mal etwas daneben liegen. Da ich bisher ebenfalls immer die jeweilige Stimmgruppe angesprochen habe, hatte das den Effekt, dass sich zum Einen die sicheren Sänger genervt fühlen, wenn "ihr" Bass immer wieder wegen etwas angesprochen wird, was der Großteil sicher singt und richtig umsetzt. Zum Anderen glauben die Sänger, dass ich nicht weiß, an welchen Personen es liegt und es kamen nach einer Probe zwei Sänger zu mir, um mir mitzuteilen, wer es ist, der da öfter mal falsch singt (was ich ja schon wusste).
Bei einem Chor habe ich einen sehr unsicheren Sänger angesprochen und übe mit ihm auch einzeln. Er ist einverstanden, dass ich ihn namentlich ansprechen, wenn die Töne nicht passen. Es kommt mir aber manchmal unpassend vor, ihn immer wieder namentlich auf etwas hinzuweisen. Ich kann nur hoffen, dass für ihn das Angesprochen-Werden vor dem Chor wirklich in Ordnung ist.
In einem anderen Chor gibt es einen bisher chorunerfahrenen Sänger, Melodien gut singen kann und auch die Töne seiner Stimmgruppe meist gut trifft, wenn sie allein singt. Aber bei Mehrstimmgkeit rutscht er öfter mal in eine andere Stimme oder singt etwas ganz anderes. Auch mit ihm habe ich abgestimmt, ob es in Ordnung ist, dass er einzeln angesprochen wird. Er hat zugestimmt. Trotzdem fühlt es sich für ihn sichtlich nicht gut an, öfter angesprochen zu werden. Aber er scheint trotzdem entschlossen, dranzubleiben.
In beiden Chören ist es der Chorgruppe wichtig, alle dabeizuhaben, die dabei sein möchten. Und trotzdem als Chor möglichst gut und sauber zu singen....

Hm. Ist das einfach ein grundsätzliches Dilemma, mit dem man leben muss?

Liebe Grüße
Anja


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27.06.2025 22:04 (zuletzt bearbeitet: 27.06.2025 22:36)
#2 RE: Alle für einen? Sippenverantwortung bei unsauberen Tönen?
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Da kann ich ganz fix drauf antworten:
Du machst das total richtig.
Bei mir ist es aber zuerst immer die ganze Stimmgruppe. Punkt.
Aber wenn ich Sänger dabeihabe, die grundsätzliche Probleme haben, dann ist es mein Job denen zu helfen ein wertvoller Teil der Gruppe zu werden.
Im Profibereich würdest du dich damit lächerlich machen.
Da erwartet man von der Chorleitung ein differenziertes Kritikmanagement und wenn ich einen falschen Ton gesungen habe, dann erwarte ich von vorne, dass das benannt und korrigiert wird. Das spart Zeit.

Im Laienbereich machen deine Sänger das, weil sie Freude daran haben.
Das ist vor allem aber eine heterogene Sozialgemeinschaft (15-70-15).
Da wird man auch den schlechteren die Chance geben müssen durch Wiederholung einer Stelle besser werden zu dürfen.
Bsp. Bass singt Stelle.
Ein Bass (Peter, der sonst ganz solide ist, aber eindeutig einen starken Bass zur Seite braucht) singt den dritten Ton einen Ganzton zu tief.
Du sagst: der dritte Ton muss höher gesungen werden. Singst/ spielst es vor. Gruppe wiederholt.
– Du hast also die Gruppe in Sippenhaft genommen.
Da kannst du nicht sagen: „Peter, der dritte Ton war zu tief.“
Das ist unnötiges Vorführen.
Unnötig, weil es die Person klein macht und sie auf einen Sockel stellt, den sie nicht freiwillig bestiegen hat.
Peter kann in dieser heterogenen Gemeinschaft einfach nicht so schnell wie die anderen (er ist ein Kategorie 3 Sänger und braucht entsprechende Fürsorge).
Unnötig auch, weil du dadurch nur bedingt Zeit sparst.

Obwohl ich der erste bin, der das ungesunde Schützen von schlechten Sängern verurteilt (weil das Chöre zerstören kann) meine ich das sehr ernst (in drei Wochen kommt im Podcast die Folge „Single out“ und danach zur Bestärkung „Sockelstellung“, wo ich darauf noch genauer eingehe).

Und nun kommt das Aber:
Aber ein Chor ist eine Sozialgemeinschaft mit einem Ziel (Auftritt oder zumindest zufriedenstellender Gesamtklang).
Das wird man nur schaffen, wenn man seine Sänger über die Probenarbeit homogenisiert.
Da gibt es kein Patentrezept, aber für jeden Chor (nach meiner Auffassung) über die richtige Stückauswahl und Probenarbeit das Ziel 15% Überflieger (Sängerkategorie 1) – 70% Normalos (Kategorie 2) und – 15% Sozialfälle (Kategorie 3 und im allerliebstennettesten Wortsinne gemeint!).

Praktisch mache ich das so wie du: bei mir haben alle neuen Sänger ein halbes Jahr „Welpenschutz“. Da finden die sich ein und wir finden zueinander (oder auch nicht). Ich gebe da auch mal vor/ nach der Probe Stimmbildungsunterricht.
Wenn die Sänger Hilfe brauchen (wie dein unerfahrener), dann spreche ich sie zuerst privat an und vereinbare mit ihnen, dass ich sie in der Probe ansprechen darf.
Darf ich das, dann tue ich das, nachdem die Stimme zuerst in Sippenhaft war und alle eine Stelle nochmal machen durften.
Ich spreche diese Person deutlich und freundlich an.
Ich spreche mit ihr ruhig und so, dass sie mich versteht.
Ich bin nun für sie da.
Ich sorge aber auch dafür, dass diese Person immer(!) vorne sitzt, die Entfernung also gering ist.
Ich verstecke nichts. Es ist nicht peinlich. Es gehört zur Probe.
Bemerke ich irritierte Blicke, dann sage ich einmal laut, dass wir das so vereinbart haben.
Meine Sänger wissen aber mit der Zeit nun, dass ich nur helfe und niemals jemanden vorführe.
In manchen Chören habe ich auch langgediente Sänger, die immer mal wieder z.B. als Bass in den Sopran wechseln und die persönliche Ansprache brauchen.

Erlaubt ein Sänger mir nicht ihn vor dem Chor anzusprechen, dann kann der Sänger mir auch vertrauen, dass ich nichts sage und es konsequent die Gruppe war.
Im schlimmsten Fall mache ich eine Pause, wenn es gar nicht geht und spreche privat mit ihm.
Aber wenn das zum Dauerzustand wird, dann wird der Sänger im Chor auch nicht glücklich.

Das mit dem Dauerzustand ist dann auch so eine Sache.
Hat sich ein Sänger nach einem halben Jahr qualitativ einer der Kategorien (also nicht 4…) zuordnen lassen, werde ich wenig Grund haben ihn häufig ansprechen zu müssen.
Alles, was dann noch häufiges Ansprechen braucht, ist leider ein Kategorie 4 Sänger und verbraucht extrem viel Energie von dir und auch anderen Sängern.
Da muss man schauen, wie lange man das durchhalten will.
Ich habe allerdings auch einen Chor, wo solch ein Sänger zum Inventar gehört und ‚akzeptiert‘ wird…

Versuche deine Sänger also über genannte Techniken zu einem homogeneren Chor zu formen.

Egal was und wie: es war aber trotzdem IMMER zuerst die Gruppe.
Das sind Laien und die haben mindestens eine zweite Chance verdient.
Wer damit nicht klarkommt muss eben in einen besseren (also anderen) Chor wechseln.
Sänger werden von mir nur angesprochen, wenn ich das mit ihnen vorher vereinbart habe.
Auch langgediente Sänger, die eigentlich wissen müsste, dass ich nur ihr bestes will.
Auch die könnten einen schlechten Tag haben (weshalb sie nun evtl. auch gerade mal so falsch singen) und das letzte, was sie jetzt brauchen, ist, vor der Gruppe bloßgestellt zu werden.

Es tut mir leid, aber dafür bin ich zu sehr Menschenfreund, auch wenn einige mir vorwerfen inhuman zu sein, wenn ich meine Sänger in Kategorien unterteile – aber das tue ich nur, damit ALLE mehr vom Singen haben.
Das „Single Out“ und manche „Stasimethoden“, man möge doch bitte petzen, wenn jemand unvorbereitet ist, gehören in den ambitionierten semiprofi-Bereich.

Wenn du nun Angst hast, dass dein Ansehen leidet, wenn du die permanenten Falschsänger nicht ansprichst, dann hast du recht: dein Ansehen leidet - berechtigterweise.
Wenn du aber konsequent Chancen gibst und z.B. immer beim dritten Mal die Falschsänger ansprichst, dann hast du eine kommunizierbare Probenmethode: sie haben drei Chancen richtig zu singen.
Dafür musst du diese Falschsänger aber vorher gefragt haben.
Hier ist es einfach wichtig berechenbar zu sein. Deine Sänger müssen dir vertrauen können, dass sie nicht an einem Tag singen, wie sie wollen und am nächsten eine Watschen bekommen.
Persönliche Korrekturen, wenn sie erlaubt sind, werden dann auch immer respektvoll, zielorientiert und positiv (mit viel Lob) gebracht.

Ich habe dieses Problem aber nicht mehr, seit ich auf eben genannte 15-70-15 umgestiegen bin und meine Sitzordnungen zum Teil festlege:
Ich bin da mit meinen Sängern auch immer sehr ehrlich und rede nicht um den heißen Brei rum.
Bestimmte Sänger sitzen zusammen, oder ein Neuling sitzt immer vorne, oder ein schwacher Sänger wird bewusst von starken Sängern umringt. Alles offen.
Das geht, weil alle wissen, dass wir ein Ziel haben: mit Freude und gemeinsam gut zu singen.
Singen ist kein Wettbewerb. Singen ist Gemeinschaft und jeder Mensch ist wertvoll.

Wenn es dann doch mal unerwartet einsame Falschsänger gibt, löse ich das über konsequente Wiederholung der Stelle, auch mit dem Hinweis, dass das nun nur noch einer ist (wenn ich weiß, dass diese Person das aushalten kann). Oder ich gehe von dieser Stelle weiter (lasse sie nun so stehen), frage in der Pause die Person, die falsch singt, ob ich das beim nächsten Mal evtl. ansprechen darf und wenn ich merke, dass das heute keine gute Idee ist, dann lasse ich die Stelle heute ganz weg (nächstes Mal neues Spiel, neues Glück).

Wir haben es mit Menschen zu tun, die zu einer heterogenen Sozialgemeinschaft mit einem Ziel zusammengekommen sind.
Unser Job ist es daraus eine homogene Gruppe zu bilden, die objektiv gut klingt.
Wie du selbst schreibst, ist der Weg dahin in jedem Chor anders und bringt neue Herausforderungen.
Eine davon ist auch, dass „alle dabei zu haben und trotzdem gut klingen“ Konsequenzen hat, die auch deinen Sängern klar gemacht werden muss (das musst du denen sagen).
So müsstest du viel Einzelstimmbildung machen (bezahlt…?), in Proben dauernd jedem einzeln erzählen, was er denn nun anders machen soll (was alle nervt), oder die Überflieger, denen langweilig ist könnten verstehen, dass sie den schwächeren Sängern helfen können, oder du könntest den Schwierigkeitsgrad der Stücke herunterschrauben (auf 15-70-15 kommen), was wieder die Überflieger nicht so toll finden.

War nun doch wieder länger und hat ein paar Wiederholungen drin (entschuldige)…
Schlusswort: 15-70-15 sorgt dafür, dass alle mitmachen können.
Kategorie 4 Sänger werden konsequent vermieden.
Über Berechenbarkeit eine vertrauensvolle Probenatmosphäre schaffen in der du (nach Absprache) ohne komische Gefühle einzelnen Sängern Hinweise geben kannst, nachdem eine Stimmgruppe eine Stelle drei Mal singen musste und nur noch dieser eine Sänger am Nichtgelingen Schuld ist.

Viele liebe Grüße und deine Sänger sollten dir danken, dass du über solche Sachen nachdenkst.

PL

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