Gesinnungswurscht

25.08.2022 11:25 (zuletzt bearbeitet: 26.08.2022 08:21)
#1 Gesinnungswurscht
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Ich habe vor kurzem einen Chor besucht, der ein seit Jahrzehnten gesungenes Lied aus dem Programm genommen hat, weil mal jemand auf die Idee kam den Komponisten zu googlen und sich herausstellte, dass der Nazi war.
Wohlgemerkt war er nicht aktiv am Kampfgeschehen beteiligt, aber als Komponist für einige inhaltliche und geschmackliche Verirrungen und Sauereien verantwortlich, die man nicht mehr unter „Mitläufertum“ abtun konnte.

Nun gut. – Das Lied war aber einfach ein (tatsächlich) unschuldiges Volksliedchen.
Der Chorsatz war auch erst nach 1945 geschrieben worden – also niemals explizit (evtl. nur im kranken Geiste) für eine wie auch immer geartete nationalistische Erbauung geschrieben und veröffentlicht worden.
Dieser Nazikomponist war sogar nach 3 Jahren „Untersuchungszeit“ (nicht Haft) Schuldirektor geworden.
Der Chorsatz mag also sogar nur für den Schulgebrauch geschrieben worden sein.

Es ist richtig und wichtig sich mit der Vergangenheit und Geschichte der Entstehung der Stücke, die man singt, auseinanderzusetzen.
Und man wird häufiger als man denkt über irritierende Gestalten stolpern, die man privat so nicht treffen wollen würde.
Das ist nicht nur bei Nazis der Fall.
Was ist mit Komponisten, die einen Despoten/ Befreier (je nach Ansicht) wie Napoleon unterstützten?
Im 20. Jahrhundert hatte die Sowjetunion Stalin, Spanien Franco, Italien Mussolini, in Griechenland ging es mit der "Junta" einige Zeit auch nicht stubenrein zu.
Überall gab es Komponisten auf der einen oder der anderen Seite und die Geschichte hat entschieden wessen Gräueltaten nun die zu verachtenden sind.
Deutschland ist da mit seiner Aufarbeitungsarbeit ein Vorreiter in der Welt (sic!).
Oder weißt du, was Leopold II Ende des 19. Jahrhunderts so im Kongo getrieben hat? Ist zwar (wie auch Namibia – Deutsch-Südwestafrika) nicht vor der Haustür, aber…
US-Amerikanische Komponisten haben häufig ein Problem mit Sklavenhaltung (für oder gegen) und bis heute Rassismus allgemein.
Um es auf die Spitze zu treiben (da Winnetou gerade gecancelt wurde…): Kann man „Porgy & Bess“ von George Gershwin noch aufführen oder ist das kulturelle Aneignung eines Weißen?
Er hat zwar testamentarisch verankert, dass die Hauptrollen nur von dunkelhäutigen Menschen gesungen werden dürfen, aber ist das nicht auch schon wieder Rassismus?

Jeder muss für sich selbst die Grenze ziehen. Aber vor allem musst du das für den Chor im CHORsinne tun.
Du musst sensibel spüren was der Chor als ganzes denkt.
Wenn ein Mensch Probleme mit einem Stück hat, kannst du da nicht einfach drauf hören, sondern musst deine eigene Überzeugung (und die des restlichen Chores) vertreten.
Bedenke: Die, die sich unwohl fühlen werden ihre Meinung verbalisieren.
Hörst du darauf, passiert dir dasselbe wie dem Verlag Ravensburger mit seinen aus dem Handel genommenen Winnetou-Büchern...
Da hatte Twitter (also in der Wahrnehmung der Generation vor mir "ganz Deutschland") ein Problem mit den Büchern...
Hat "ganz Deutschland" nicht - eine nicht representative Umfrage der HAZ ergab, dass 4,6% der Leser ein Problem damit haben.
Und wenn du dann einen Distler aufgrund seiner Vergangenheit (und vereinzelter Ablehnung) nicht singen lässt, kann das deine Sänger der Nachkriegsgeneration empfindlich treffen.
Mir ist mein Erleben der Reaktion eines Chores mit genau dieser Problematik noch sehr in Erinnerung und hat meine Herangehensweise geprägt.

Es kann also nur darum gehen für sich selbst eine absolute rote Linie, die man selbst nicht übertreten wird, zu ziehen, und ab da in alle Richtungen offen für die Wünsche des Chores zu sein.
Das kann auch bedeuten, dass man Lieder doch nicht singt, die man selbst singen würde - schlicht, weil eine Mehrheit im Chor tatsächlich dagegen ist.

Die Lösung, die bisher alle aktuell gesetzes- und systemtreuen Sänger überzeugt hat, ist:
Meine Grenze liegt in der ursprünglichen Verwendung.
Mein Lieblingbeispiel ist hier eben Hugo Distler:
Seine Sachen dürften nicht mehr gesungen werden.
Er war Nazi.
Er hat sich ernsthaft Gedanken darüber gemacht, wie das arische Kirchenlied auszusehen hat – und hat es dann halt auch verfasst.
Waren seine Chorsätze aber dazu gedacht aufzuhetzen oder zu verunglimpfen?
Ich meine nein.
Hugo Distler ist für mich das aller Letzte und ein Abschaum, dem ich sein kümmerliches Ende mehr als gönne.
Seine Musik lasse ich trotzdem singen. Er war ein Kind seiner Zeit (das darf nicht entschuldigen – macht seine Haltung aber verständlich ohne sie zu rechtfertigen).
Seine Musik ist heute und in anderem Kontext ideologiefrei aufführbar.

So lasse ich Werke von Nazis und mordenden Kommunisten singen (und Belgiern des 19. Jahrhunderts) – eben so lange diese Werke nicht eine kranke Ideologie fordern oder plakativ darstellen
(dass sie über Umwege oder direkt ehemals förderten - wie eben Distler - ist fast unvermeidlich).

Grundregel: Werk und Komponist und Zeit(-geist) gehören immer zueinander. Sie sind untrennbar.
Die Gesinnung allein kann ein Stück aber nicht unsingbar machen.
Entscheidend ist der vom Komponisten verfolgte Zweck und, ob dieser Zweck heute noch eine Wirkung haben würde, das Lied also ideologisch wirksam ist.
Dies muss immer eine Einzelfallentscheidung sein. Evtl. ist das Lied unschuldig, bekommt seine Ideologie aber durch die geschichtliche Einordnung.
In jedem Fall ist dies dem Chor darzulegen und zu erklären.

Ich hatte auch schon den Fall, in dem ein Chor nichts über seine Komponisten wissen wollte, da man sich Sorgen machte, dass da was Schlimmes zwischen wäre (was es war…).
Daher auch dieser Artikeltitel: Die Gesinnung ist nicht wurscht, aber auch nicht ausschließend, aber vor allem zu besprechen.

PL

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