Anwesenheitspflicht

03.09.2023 21:33
#1 Anwesenheitspflicht
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Im Laienbereich macht eine strikte und numerologische Anwesenheitspflicht keinen Sinn.
Die Regelung „3x fehlen und dann bist du bei den Konzerten nicht dabei“ ist Blödsinn.
Der Grund ist einfach: wir proben 1x pro Woche.
Bei langfristigen Probenphasen (z.B. 6 Monate, ab denen solch eine 3xfehlenunddufliegstRegel ‚Sinn‘ macht) werden wir am Ende einen extra Probentag und natürlich längere Proben (Hauptrobe) haben.
In den Anfangsproben werden wir Töne proben und Grundsätzlichkeiten klären (z.B. Atmer, Dynamik und Tempo).
Dann erst proben wir Feinheiten (nach der Grundregel: „von Grob nach Fein“).
Aber in jedem Laienchor kommt der Punkt, an dem wir diese Feinheiten nicht mehr bis in die nächste Woche retten können.
Der Chor und seine Sänger ist nicht in Gänze fähig diese Feinheiten zu behalten und nach einer Woche umzusetzen.
Das klappt eben erst in den späten zeitlich eng beieinander liegenden Proben, bzw. nachdem die Töne und Feinheiten durch stete Repetition festsitzen.

Warum können das aber Profis?
Weil bei ihnen das Muskelgedächtnis anders trainiert ist.
Profis können z.B. bei Opernproduktionen nach einem Monat noch Feinheiten im Gesang und Bewegung mit einer Generalprobe abrufen und im Auftritt präsentieren.
Deine Sänger werden das niemals können.
Sie benutzen ihre Stimme unter der Woche für alles andere als sauberes und organisiertes Singen.

Konsequenz? Die Anwesenheitspflicht macht nur individuell bewertet Sinn.
Jemand, der jede Probe braucht, um auch nur annäherungsweise die Töne zu lernen, muss natürlich immer anwesend sein.
Jemand, der die Töne schnell lernt, für den sind vor allem die mittleren Proben uninteressanter (nach den Anfangsproben, in denen die Stücke grundsätzlich kennengelernt werden).
Sie sind für solche Sänger, wenn überhaupt, nur für das soziale Miteinander wichtig.
Das heißt auch, dass diese Sänger durch ihre Anwesenheit schwächeren Sängern beim Tönelernen helfen. (siehe dazu in meinem Buch den Artikel "Sängerkategorien")

Die Proben vor dem Auftritt sind essenziell für alle.
Davor führe ich zwar auch eine Anwesenheitsliste, die aber eher erzieherischen Charakter hat (…es ist augenscheinlich wichtig, dass alle da sind und es wird von Chorleiterseite darauf geachtet…).
Doch nur so behalte ich auch den Überblick über die schwächeren Sänger und kann schon früh helfend eingreifen.
D.h. es kann sein, dass ein tonsicherer Sänger 5x fehlen kann, ohne später den Chorklang zu beeinträchtigen, der schwache Sänger von mir aber schon nach 2x eine freundliche Ermahnung bekommt.

Die letzten Proben (letztes Viertel bis Drittel der Probenphase) sind wichtig für alle Sänger. Hier wird der Chorklang geformt und die Feinheiten besprochen.
Die Feinheiten umsetzen und bis in die nächste Woche retten können niemals alle – hier hilft eben nur stete Wiederholung, bzw. auch deine Akzeptanz der Grenzen.
Aufblühen tuen viele Stücke auch in meinen Chören erst mit den letzten drei Proben und einem kürzeren zeitlichen Abstand der Proben.
Nochmal: bis zu diesem Punkt ist eine strikte Anwesenheitspflicht Quatsch. Sie muss individuell bewertet werden, wofür man aber auch seine Sänger und deren Qualitäten kennen muss.

Eine Anwesenheitspflicht ist aber eh sehr konzertzielorientiert.
Aber dieses Denken kommt in den besten Sozialchören vor: ist das Ziel deines Chores eher das Gesellige und Menschen fehlen häufig in der Probe, legen diese eher keinen Wert auf die Gemeinschaft und sind eben konzertzielorientiert. In solch einem Chor würdest du aber auch mit einer Anwesenheitsliste nur Ärger bekommen.

Ich bin in jedem meiner Chöre konzertzielorientiert (ob im Kinderchor oder Kirchenchor, bis zum Konzertkammerchor) - aber betrachte alle meine Sänger individuell und bringe am Ende doch immer wieder einen heterogenen Haufen von Menschen dazu, einen homogenen und objektiv schönen Chorklang zu produzieren.

Jedes Mal, wenn ich mit einem konzertzielorientierten Kollegen über dieses Thema leidenschaftlich diskutiere, frage ich, wieviel mehr Qualität durch eine 3xfehlenunddufliegstRegel erreicht wird.
Ich behaupte, dass du im Laienbereich nichts außer Verdruss und Elitendenken erreichst, aber keine spürbare Qualitätssteigerung.
Beweise mir gern das Gegenteil. Oder versuche es und ich zeige dir andere Wege, wie es humaner geht.

PL

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